1814 Sprachlicher Anfangsunterricht – Deutsch als Zweitsprache

Sprachlicher Anfangsunterricht Praxis Unterricht Finken Deutsch als Zweitsprache Anja Wildemann und Claudia Rathmann 4 Material-CD mit farbigen Bildvorlagen und vielen Arbeitsblättern

Sprachlicher Anfangsunterricht Deutsch als Zweitsprache Handbuch und CD mit Beobachtungsbögen und vielen alltagstauglichen und erprobten Unterrichtsmaterialien von Anja Wildemann und Claudia Rathmann illustriert von Marlit Peikert 4

Sprachlicher Anfangsunterricht Band 4: Deutsch als Zweitsprache Best.-Nr. 1814 Autorinnen: Claudia Rathmann, Anja Wildemann Illustrationen: Marlit Peikert Bildnachweis CD: M13 „Präpositionen“: Barbara Stachuletz Hörgeschichte „Die Bremer Stadtmusikanten“ Erzähler: Claus Claussen · Produktion: Biton Produktion · Toningenieur: Stephan Busch Redaktion: Doris Fischer, Tania Meyer Herstellung: Christina Kupka Satz: Therese Meissner Umschlaggestaltung: Ünsal Özbakir © 2015 Finken-Verlag GmbH, Oberursel Der Kauf von Kopiervorlagen berechtigt die Lehrpersonen der kaufenden Schule, beliebig viele Kopien für den Einsatz an dieser Schule herzustellen. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Nutzung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne eine solche Einwilligung eingescannt und in ein Netzwerk eingestellt werden. Das gilt auch für Intranets von Schulen und sonstigen Bildungseinrichtungen. Achtung: Diese CD enthält sowohl Audio- als auch PDF-Dateien. Zum Öffnen der Audio-Dateien bitte den Media-Player (PC) oder iTunes (Mac) benutzen. Zum Öffnen der PDF-Dateien bitte den Explorer (PC) oder Finder (Mac) benutzen. Zum Ansehen und Ausdrucken der PDF-Dateien benötigen Sie den kostenlosen Adobe Reader®, den Sie unter http://get.adobe.com/de/reader finden. Anja Wildemann ist Professorin für Grundschulpädagogik mit dem Schwerpunkt Sprache an der Universität Koblenz-Landau. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind Schriftspracherwerb, Sprachlicher Anfangsunterricht, Sprachbildung und Mehrsprachigkeit. Claudia Rathmann war Fachleiterin für das Fach Deutsch am Seminar Grundschule im ZfsL Bonn und arbeitet jetzt an einer Grundschule. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Sprachlicher Anfangsunterricht, Literarisches Lernen und Medienbildung in der Grundschule.

© Finken-Verlag · www.finken.de 3 Inhaltsverzeichnis Sprachlicher Anfangsunterricht Band 4 Das Konzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 1. Kinder mit Deutsch als Zweitsprache im Anfangsunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1.1 Wichtige Begriffe im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1.2 Wissenswertes über den Zweitspracherwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1.3 Den Sprachstand erheben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 1.4 Hilfreiches für den Anfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 2. Sprechen und Zuhören . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 2.1 Hörverstehen und Aussprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 2.2 Wortschatz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 2.3 Mündliches Erzählen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 2.4 Sprech- und Höranlässe bereitstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 3. Schreiben in der Zweitsprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 3.1 Alphabetisierung in der Zweitsprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 3.2 Textschreiben als Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 3.3 Stolpersteine beim Textschreiben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 3.4 Hilfen für das Textschreiben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 4. Lesen in der Zweitsprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 4.1 Leseerfahrungen am Schulanfang. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 4.2 Lesen(lernen) in der Zweitsprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 4.3 Stolpersteine beim Lesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 4.4 Hilfen für das Lesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 5. Sprache und Sprachgebrauch untersuchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 5.1 Grundlagen eines sprachförderlichen Unterrichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 5.2 Ressourcen für die Sprachreflexion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 5.3 Viele Sprachen – viele Schriften – Ein Unterrichtsvorschlag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 6. Mit Spiel und Spaß lernen – kleine Unterrichtsideen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 6.1 Anregungen zum Sprechen und Zuhören . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 6.2 Anregungen zum Schreiben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 6.3 Anregungen zum Vorlesen und Lesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 6.4 Anregungen zu Sprache und Sprachgebrauch untersuchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 7. Unterrichtsvorschläge für einen integrativen Sprachunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 7.1 Wie fühlst du dich heute? – Eine Unterrichtsreihe …. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 7.2 Hurra, wir gehen nach Bremen! – Die Bremer Stadtmusikanten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 8. Anhang Material M auf der CD · Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 Finken-Materialien für den Sprachlichen Anfangsunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Literaturauswahl zum Thema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Zur Orientierung im Band ✔ Checklisten ✱ Erläuterungen Tipps und weiterführende Hinweise M Material auf der CD

4 © Finken-Verlag · www.finken.de Sprachlicher Anfangsunterricht · Das Konzept Der Sprachliche Anfangsunterricht zählt zu den anspruchsvollsten Aufgaben in der Grundschule. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass er maßgeblich von den individuellen kindlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten abhängig ist. Wer heute in eine erste oder auch zweite Klasse hineinschaut, hat es mit einer bunten Mischung zu tun. Da sitzen Kinder, die schon selbst lesen können, neben solchen, denen noch nie vorgelesen wurde, Schülerinnen und Schüler, die fließend Russisch sprechen und Deutsch als Zweitsprache lernen, neben Muttersprachlern, die nur über einen sehr eingeschränkten Wortschatz verfügen. Die Liste der individuellen Besonderheiten ließe sich beliebig verlängern. • Wie kann es nun gelingen, dass am Ende von Klasse zwei alle diese Kinder angemessen lesen und schreiben können? • Was muss ich tun, damit jedes Kind gemäß seinen Fähigkeiten gefördert und auch gefordert wird? • Wie kann ich die in den Bildungsstandards geforderten Kompetenzen anzielen und zugleich die Individualität des Einzelnen im Blick behalten? Dies sind nur einige Fragen, die sich Lehrerinnen und Lehrer stellen, wenn sie ein erstes Schuljahr übernehmen. Ihr Unterricht findet statt im Spannungsfeld zwischen äußerst heterogenen Ausgangsbedingungen der einzelnen Schülerinnen und Schüler und den für alle zu erreichenden Kompetenzen und Standards, zwischen den Forderungen der modernen Fachdidaktik, den fachspezifischen Lehrplänen und realistischen Formen der Umsetzung im Schulalltag. Viele wünschen sich mehr Unterstützung, insbesondere im Hinblick auf die gezielte Beobachtung und Analyse von Lernvoraussetzungen, aber auch konkrete Unterrichtsvorschläge, die sich daraus ableiten lassen. Leitideen und Ziele der Reihe Das Konzept der Reihe „Sprachlicher Anfangsunterricht“ setzt an diesen Bedürfnissen der Lehrerinnen und Lehrer an. Ziel ist es, den Lehrenden eine Unterrichtshilfe an die Hand zu geben, die den vielfältigen Anforderungen des Schulalltags Rechnung trägt, indem sie verständlich aufbereitete Informationen zur Fachdidaktik mit konkreten unterrichtlichen Anregungen verbindet. Diese Vermittlung zwischen Theorie und Praxis stellt ein zentrales Anliegen der Reihe dar. Sie soll Lehrkräften Sicherheit geben für ihr pädagogisch-didaktisches Handeln im Unterricht und sie zugleich ermuntern, auch einmal neue Wege zu gehen. Darüber hinaus spielen in jedem Band die folgenden Aspekte eine besondere Rolle: Kompetenzorientierung Die Qualität eines Sprachlichen Anfangsunterrichts muss sich vor allem daran messen lassen, wie erfolgreich er ist, d. h. inwiefern es ihm gelingt, die individuellen sprachlichen Kompetenzen der Kinder aufzugreifen und weiterzuentwickeln. In den landesweiten Bildungsstandards und den Lehrplänen für das Fach Deutsch werden die Anforderungen an das Lernen der Kinder in Kompetenzerwartungen konkretisiert. Diese beziehen sich auf alle Handlungsfelder des Deutschunterrichts. Dazu gehören neben dem Lesen- und Schreibenlernen auch das mündliche Sprachhandeln (Bereich: Sprechen und Zuhören) sowie die Anbahnung eines bewussten Umgangs mit Sprache (Bereich: Sprache und Sprachgebrauch untersuchen). Um Lehrende in ihrer Unterrichtsarbeit zu unterstützen, bieten die einzelnen Hefte der Reihe Informationen und Praxisangebote zu allen Bereichen an und verknüpfen diese gezielt mit den entsprechenden Kompetenzerwartungen.

© Finken-Verlag · www.finken.de 5 Schülerorientierung Sprachlicher Anfangsunterricht muss Kinder da abholen, wo sie stehen und von diesem Standort aus individuelle Lernziele und -wege aufzeigen und begleiten (Dehn u. a. 2011, Wildemann 2010a). Dies funktioniert jedoch nur dann, wenn Lehrerinnen und Lehrer in regelmäßigen Abständen die Lernvoraussetzungen und Lernstände in der Klasse analysieren und darauf didaktisch reagieren. Diagnostizieren und Fördern sind zentrale Aufgaben im heutigen Lehrberuf. Dies umso mehr, wenn man den Inklusionsgedanken ernst nimmt. Für die Lehrenden bedeutet das: Sie müssen sich zunächst über geeignete Diagnoseverfahren informieren und dann versuchen, diese möglichst ökonomisch in ihren Unterricht zu integrieren. Die Reihe greift dieses Problem auf, indem sie Vorschläge zur Erhebung von Lernvoraussetzungen für alle Handlungsfelder des Deutschunterrichts anbietet und mit entsprechenden Dokumentationsmaterialien (z. B. Beobachtungsbögen) verbindet. Es geht darum, eine kontinuierliche Verknüpfung von Beobachten und Unterrichten anzuregen und den Lehrerinnen und Lehrern zugleich Möglichkeiten aufzuzeigen, wie sie die Lernentwicklung des einzelnen Kindes systematisch dokumentieren und begleiten können. Praxisorientierung In einem guten Sprachlichen Anfangsunterricht muss es gelingen, vor dem Hintergrund der kindlichen Lernvoraussetzungen fachlich fundierte und methodisch vielfältige Lernarrangements zu entwickeln, die einerseits individuelle Lernwege zulassen, andererseits aber auch die für alle verbindlichen Kompetenzerwartungen im Blick behalten. Das bedeutet, dass die Lehrenden sich regelmäßig über den aktuellen Stand der Fachdidaktik informieren, Unterrichtsmaterialien auf ihre Effizienz hin überprüfen und gegebenenfalls alternative didaktische Zugänge ausprobieren sollten. In der schulischen Realität wird demgegenüber oft intuitiv auf bereits Vorhandenes und Vertrautes zurückgegriffen, weil sich die Lehrenden im Umgang mit den bekannten Materialien sicher fühlen und die Vorbereitung sich in einem überschaubaren zeitlichen Rahmen bewegt. Die in der Heftreihe vorgestellten Unterrichtsideen sind zur Entlastung der Lehrenden gedacht. Sie zeigen auf, welche Kompetenzen sich mit den entsprechenden Vorhaben erzielen lassen, welche Differenzierungsmöglichkeiten sich ergeben und wie man die Unterrichtsideen ganz konkret umsetzen kann. Struktur der Reihe Die Heftreihe „Sprachlicher Anfangsunterricht“ umfasst fünf Themenbände. Dabei bietet jeder Band einen theoretisch fundierten Einblick in ein Schwerpunktthema sowie Anregungen, Hilfen und Materialien für die Praxis. Folgende Themen sind als Einzelbände erhältlich: Band 1: Lernvoraussetzungen feststellen und Unterricht gestalten Band 2: Lesen und Schreiben Band 3: Sprechen und Zuhören Band 4: Deutsch als Zweitsprache Band 5: Sprachförderung und Sprachbildung

6 © Finken-Verlag · www.finken.de Einleitung Deutsch als Zweitsprache ist kein eigenständiges Unterrichtsfach. Dennoch liegen für die meisten Bundesländer Richtlinien oder Lehrpläne vor, die eigens auf sprachliche Besonderheiten beim Zweitspracherwerb zugeschnitten sind und entsprechende Handlungsfelder eröffnen. Kinder, die Deutsch als ihre zweite Sprache erwerben, werden oft zusätzlich gefördert. Sie nehmen aber vor allem am regulären Deutschunterricht teil. Und hier stellt sich Lehrkräften die Frage, „Wie kann ich die Bedürfnisse von DaZ-Kindern berücksichtigen und gleichzeitig meinen „eigentlichen“ Unterricht durchführen?“ Aus der Mehrsprachigkeitsdidaktik liegen hierfür einige Konzepte vor (vgl. Oomen-Welke 2000, 2010), die vor allem versuchen, einen gemeinsamen Unterricht für alle Kinder zu ermöglichen. Aus der Deutsch als Zweitsprache-Didaktik stammt außerdem ein Praxisbuch von Rösch, welches sich an den vier Kompetenzbereichen des Faches orientiert und neben Hintergrundinformationen zahlreiche Vorschläge für die Umsetzung im Unterricht bereithält (vgl. Rösch 2003). Auch die Ideensammlung von Schader (2014) bietet vielfältige Anregungen für den Unterricht. Für sprachreflexive und sprachanalytische Unterrichtsformen finden sich in den Büchern von Belke konkrete Vorschläge (vgl. Belke 2012a, b). Für die gezielte DaZ-Förderung gibt es u.a. das Material „Sprachbildung kompakt“ (Finken Verlag), welches sich an unterschiedlichen lebensweltlichen Themen (z. B. Schule, Wohnen, Stadt) ausrichtet. Darüber hinaus gibt es Materialien, die sowohl sprachliches als auch interkulturelles Lernen miteinander verbinden. Dazu gehören der mehrfach ausgezeichnete Sprachenfächer von Oomen-Welke (2010) für die Sekundarstufe I und das Sprachenportfolio „Meine, deine, unsere Sprachen“ von Fornol und Wildemann (2013) für die Klassen 2 bis 5. Es gibt also durchaus Konzepte, Ideen und Materialien für den Unterricht mit Kindern mit Deutsch als Zweitsprache. Sie werden in der Regel aber weitaus weniger genutzt als herkömmliche Materialien. Woran liegt das? Ein Grund ist sicherlich, dass die vorhandenen Praxisvorschläge und Materialien meist keinen lehrgangsartigen Charakter haben, vielmehr handelt es sich um Ideensammlungen, aus denen die Lehrkräfte, angepasst an ihre Lerngruppe, individuell auswählen können. Gerade das fällt scheinbar vielen Lehrerinnen und Lehrern schwer. Es ist jedoch erforderlich, wenn man seine Unterrichtsplanung an den Lernvoraussetzungen und -möglichkeiten der Kinder ausrichtet (siehe dazu auch Band 1). Oft fehlt sicherlich auch die Zeit, sich mit den unterschiedlichen Sammlungen und Materialien intensiv auseinanderzusetzen. Hier schlagen wir vor, zwei bis drei Fachkonferenzen zu nutzen, um sich Materialien gegenseitig vorzustellen, miteinander Umsetzungsmöglichkeiten zu besprechen und schließlich einen Plan zu erstellen, wer welches Material so aufbereitet, dass es für alle nutzbar ist. Auf diese Weise haben Sie in kürzester Zeit an Ihrer Schule einen Fundus an Unterrichtsideen und Materialien, den Sie dann nach und nach erweitern können. Dennoch fühlen sich viele Lehrkräfte den besonderen Herausforderungen, die sich durch die Mehrsprachigkeit in ihren Klassen ergeben, nicht gewachsen. Zu Recht beklagen sie immer wieder, dass sie für diese Form des inklusiven Unterrichts nicht ausgebildet seien. Das darf aber nicht dazu führen, dass sie ihren Unterricht so durchführen, als gäbe es in ihrer Klasse keine Kinder, für die die Unterrichtssprache ihre zweite Sprache ist. Dies umso mehr, weil sich die aktuell bestehende sprachliche Heterogenität in Grundschulklassen aufgrund der anhaltenden Flüchtlingsbewegungen in den nächsten Jahren und Jahrzehnten eher verstärken wird. Daher verstehen wir den vierten Band unserer Reihe zum Sprachlichen Anfangsunterricht auch als eine Form der Weiterbildung. Wir liefern Ihnen darin Hintergrundinformationen zu wichtigen Aspekten von Deutsch als Zweitsprache im Hinblick auf die verschiedenen Lernfelder des Faches. Außerdem enthält der Band, wie bereits die anderen drei Bände, kleine Unterrichtsideen und Unterrichtsreihen sowie Materialien für deren Umsetzung auf der Material-CD. Ganz herzlich danken wir Sabine Oejen, Viktoria Keduk sowie Ruth Stockmann für die Unterstützung bei der Entwicklung und Erprobung der Unterrichtsideen und Muhammed Akbulut für die Übersetzung des Beobachtungsbogens ins Türkische. Wir wünschen Ihnen viel Erfolg bei der Umsetzung!

© Finken-Verlag · www.finken.de 7 1. Kinder mit Deutsch als Zweitsprache im Anfangsunterricht Laut Statistischem Bundesamt leben in Deutschland etwas mehr als 80 Millionen Menschen, davon 20% mit einem so genannten Migrationshintergrund (vgl. https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/ Bevoelkerung/MigrationIntegration/MigrationIntegration.html). Während das Statistische Bundesamt grundsätzlich alle Menschen mit einem Einwanderungshintergrund zur Gruppe der Migrant/-innen zählt, erfolgt in den großen Large-Scale-Studien wie PISA (Programme for International Student Assessment) und IGLU (Internationale Grundschul-Lese- Untersuchung) oder auch im nationalen Ländervergleich des IQB (Institut für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen) eine differenziertere Gruppierung. Beispielsweise unterscheidet der vom IQB im Jahr 2011 durchgeführte nationale Ländervergleich wie folgt: • „Schülerinnen und Schüler ohne Zuwanderungshintergrund: beide Eltern sind in Deutschland geboren; • Schülerinnen und Schüler mit einem im Ausland geborenen Elternteil: ein Elternteil ist in Deutschland, der andere Elternteil ist im Ausland geboren; • Schülerinnen und Schüler der zweiten Generation: beide Eltern sind im Ausland geboren, die Schülerin / der Schüler selbst ist in Deutschland geboren; • Schülerinnen und Schüler der ersten Generation: sowohl beide Elternteile als auch die Schülerinnen oder Schüler selbst sind im Ausland geboren.“ (Stanat et.al. 2012, S. 211) Was sagen diese und andere Zuordnungen aber darüber aus, ob und wie ein Kind Deutsch als zweite Sprache erwirbt? Hier kann ein Blick auf das dritte bzw. vierte Lebensjahr weiterhelfen, da in diesem Lebensalter der primäre Erstspracherwerb in der Regel als abgeschlossen gilt. Bei Kindern, deren Deutscherwerb also nach dem dritten oder vierten Lebensjahr beginnt, spricht man von einem frühen Zweitspracherwerb; sie erwerben Deutsch als ihre zweite Sprache (vgl. Ahrenholz 2014a, S. 5) Mehrheitlich sind dies Kinder, die bereits in Deutschland geboren sind und in deren Familien eine andere Sprache als Deutsch gesprochen wird. Ein gezielter und intensiver Kontakt zur deutschen Sprache beginnt bei einigen von ihnen mit dem Eintritt in den Kindergarten, was natürlich nicht ausschließt, dass bereits früher formelle und informelle Sprachkontakte bestehen. Entscheidend für die Klassifizierung „Deutsch als Zweitsprache“ ist vor allem die Tatsache, dass bereits eine Sprache – die Erstsprache – erworben wurde und Deutsch nun als zweite Sprache hinzukommt. Um das zeitliche Nacheinander zu veranschaulichen, wird in der Literatur auch zwischen L1 für die Erstsprache und L2 für die Zweitsprache differenziert. 1.1 Wichtige Begriffe im Überblick Der kindliche Zweitspracherwerb verläuft ähnlich wie der Erstspracherwerb, dennoch gibt es einige Besonderheiten, die zu berücksichtigen sind, wenn Kinder in der deutschen Sprache als ihrer Zweitsprache alphabetisiert werden. Bevor dies in Kapitel 1.2 dargestellt wird, sind nachfolgend einige wichtige Begriffe aufgeführt, die Ihnen in diesem Kontext immer wieder begegnen werden. U. E. ist es wichtig, eine gewisse begriffliche Drittes und viertes Lebensjahr

8 © Finken-Verlag · www.finken.de Klarheit zu erlangen, um z. B. in Dokumenten, im Austausch mit Kolleginnen und Kollegen und in Elterngesprächen in seinen Aussagen eindeutig zu sein. Gleichzeitig wissen wir, dass eine solche begriffliche Klarheit nicht nur bei Laien, sondern auch in der Fachliteratur nicht immer gegeben ist, daher sollen diese Erläuterungen ✱ Ihnen helfen. ✱ Erstsprache ist die Sprache, die ein Kind als erstes, also von Geburt an erwirbt. Der primäre Erstspracherwerb ist in der Regel mit drei bis vier Jahren abgeschlossen. D. h. aber nicht, dass Kinder nach dem vierten Lebensjahr nicht noch weitere Sprachentwicklungsschritte durchlaufen (siehe dazu auch Rank/Wildemann 2014). In der Literatur wird der Begriff Muttersprache teilweise synonym verwendet, aber auch kritisiert, da er suggeriert, dass ausschließlich die Mutter den kindlichen Spracherwerb prägt. Die Bezeichnung Erstsprache impliziert hingegen, dass weitere Sprachen folgen können. ✱ Als Zweitsprache bezeichnet man die Sprache, die zeitlich nach der Erstsprache erworben wird, also nach dem primären Erstspracherwerb. Der Zweitspracherwerb erfolgt vor allem ungesteuert, also im Alltag der Kinder und nicht schulisch. Die Bezeichnung „Schüler/innen mit nichtdeutscher Muttersprache“ kommt in diesem Zusammenhang auch vor, wird aber äußerst kritisch gesehen, da sie, besonders von den Betroffenen, als stigmatisierend erlebt wird. ✱ Als Seiten- oder Quereinsteiger bezeichnet man im deutschen Schulsystem Schülerinnen und Schüler mit geringen oder keinen Deutschkenntnissen, die zuvor keine deutsche Institution (Kindergarten oder Schule) besucht haben. Mehrheitlich handelt es sich dabei um Flüchtlinge. Die besondere Sprachlernsituation von Seiteneinsteigern wird u.a. in Band 5 dieser Reihe thematisiert. ✱ In der Literatur findet sich auch immer wieder der Begriff Herkunftssprache, der jedoch nicht mehr eindeutig ist, da er sich eher auf die ursprüngliche, geografische Herkunft der Familie – oft der Großelterngeneration – als auf die unmittelbare des Kindes bezieht. Dennoch gibt es in den Bundesländern Herkunftssprachenunterricht, wie z. B. Türkisch, Russisch oder Kurdisch. ✱ Vor allem in der Fremdsprachendidaktik wird außerdem der Begriff der Tertiärsprache verwendet. Es ist die dritte Sprache, zumeist eine schulische Fremdsprache, die zu den ersten beiden Sprachen hinzukommt. Verwendet werden daher auch die Abkürzungen L1 für Erstsprache, L2 für Zweitsprache und L3 für die dritte Sprache. ✱ Eine Fremdsprache wird in einem institutionalisierten Kontext erworben, d. h. sie wird unterrichtlich vermittelt. Ahrenholz weist aber zu Recht daraufhin, dass besonders die Erwerbssituation von neu zugewanderten Kindern, die zum Teil zunächst in separaten Sprachkursen unterrichtet werden, stark dem herkömmlichen Fremdsprachenunterricht gleicht (vgl. Ahrenholz 2014a, S. 7) ✱ Kinder, die mit zwei Sprachen aufwachsen, bezeichnet man als bilingual. Geschieht dies von Geburt an, spricht man auch von einem bilingualen Erstspracherwerb, d. h. jede der beiden Sprachen hat den Status einer Erstsprache.

© Finken-Verlag · www.finken.de 9 ✱ Oft wird auch der Begriff Mehrsprachigkeit für verschiedene Phänomene oder als Oberbegriff verwendet. Mehrsprachigkeit meint eine „multiple Sprachkompetenz“ (vgl. Ahrenholz 2014a, S. 5). Eine Gesellschaft kann mehrsprachig sein (gesellschaftliche Mehrsprachigkeit), ebenso kann ein Individuum mehrsprachig sein (individuelle Mehrsprachigkeit). Wann Mehrsprachigkeit vorliegt, wird in der Literatur unterschiedlich gesehen; für einige liegt Mehrsprachigkeit dann vor, wenn zwei Sprachen, für andere erst, wenn mehr als zwei Sprachen beherrscht werden. Dabei kann der Grad der Sprachbeherrschung durchaus variieren. ✱ Die Bezeichnung Lernersprache geht auf die Interlanguagehypothese zurück, die davon ausgeht, dass Lerner/innen beim Sprachenlernen so etwas wie eine „Zwischensprache“ entwickeln, die sich aus Elementen der Erst- und der Zweitsprache speist, aber auch eigene Strukturen enthält (vgl. Bausch/Kasper 1979, Roche 2013). Mit dem Begriff Lernersprache wird gleichzeitig die Prozesshaftigkeit des Sprachenlernens zum Ausdruck gebracht. Man geht davon aus, dass es sich um ein Zwischenstadium handelt, daher auch die Bezeichnung „Interimssprache“, welches sich progressiv weiter entwickelt. Für die Beurteilung von Schülerleistungen ist dieser entwicklungsorientierte Blick äußerst wichtig (siehe dazu Kap. 1.2). Wie lange ein Kind, das Deutsch als seine zweite Sprache erwirbt, bereits Kontakt zu dieser Sprache hat, ist bedeutsam für seinen Sprachentwicklungsstand. Daher ist bei einer Überprüfung des Sprachstandes die Kontaktdauer unbedingt zu berücksichtigen. Ein Kind im Alter von sechs Jahren, das erst zwei Jahre Kontakt zur deutschen Sprache hat, kann im Hin- blick auf sein sprachliches Können nicht mit einem Kind verglichen werden, welches von Geburt an deutschsprachig oder bilingual mit Deutsch und einer anderen Erstsprache aufgewachsen ist. Daher ist neben dem Lebensalter das Kontaktalter ein wichtiger Indikator für ihre Sprachentwicklung. 1.2 Wissenswertes über den Zweitspracherwerb Hypothesen zum Zweitspracherwerb Wie bereits in Kapitel 1.1 skizziert, wird dann von einem Zweitspracherwerb gesprochen, wenn der Erwerb der Erstsprache abgeschlossen ist (vgl. Ahrenholz 2014a). Bekannt ist aus der Forschung, dass der Zweitspracherwerb durchschnittlich nicht langsamer erfolgt als der Erwerb des Deutschen als Erstsprache (vgl. Haberzettl 2007, Tracy 2008). Außerdem lassen sich strukturelle Regelmäßigkeiten nachzeichnen (vgl. Grießhaber 2007, Haberzettl 2014), die für einen ähnlich kontinuierlichen Verlauf sprechen, wie er für den Erstspracherwerb bekannt ist. Dennoch können für den Zweitspracherwerb weniger universelle Aussagen getroffen werden, da sowohl innersprachliche als auch außersprachliche Faktoren (z. B. Kontaktdauer, Quantität und Qualität des sprachlichen Inputs) Einfluss auf den Verlauf nehmen (vgl. Wildemann 2015). Aus diesem Grund liegen verschiedene Erklärungsmodelle bzw. Hypothesen für den DaZ-Erwerb vor (siehe dazu auch Becker 2011, Jeuk 2003, 2010). Vorgestellt werden soll an dieser Stelle lediglich die Interlanguagehypothese, da sie einen lernerorientierten Blick auf den kindlichen Zweitspracherwerb bereitstellt und deshalb auch aus didaktischer Perspektive hilfreiche Erklärungen bietet. Kontaktdauer/ Kontaktalter

10 © Finken-Verlag · www.finken.de Die Interlanguagehypothese beruht auf der Annahme, dass mit dem Kontakt zur deutschen Sprache verschiedene Erwerbs- bzw. Lernanforderungen verbunden sind, die das Kind konstruktiv bewältigt. Daraus hervor geht die Bezeichnung „Lernersprache“, die sich auf Selinker (1972) zurückführen lässt und die ein Stadium bezeichnet, in dem sich das Kind zwischen der Erst- und der Zweitsprache befindet. Das Kind realisiert dabei sowohl sprachliche Formen aus der Erstsprache als auch Formen aus der Zielsprache Deutsch. Darüber hinaus bildet es aber auch Sprachformen, die sich weder auf seine erste noch auf seine zweite Sprache zurückführen lassen. „Demnach sind Lerner(innen)sprachen eigenständige Systeme mit individueller Entwicklungsdynamik.“ (Wildemann 2015, S. 64) Die lernersprachlichen Strukturen werden schließlich bei anhaltendem sprachlichem Input in der Zweitsprache zunehmend aufgegeben. Um zu erkennen, ob Kinder sich in ihrem Zweitspracherwerbsprozess in einem solchen Zwischenstadium befinden, unterscheidet Apeltauer (2001, S. 681) vier Fehlerkategorien: • Interferenzfehler als Transferfehler, bei denen eine Übertragung (Transfer) von Strukturen aus der Erstsprache in die Zweitsprache stattfindet. Hierbei handelt es sich um interlinguale Fehler, z. B. im Satzbau. (Morgen ich komme nicht.) • Vereinfachungen bei der Wortbildung, (z. B. fallen statt herunterfallen) • Übergeneralisierungen, wie sie auch beim Erstspracherwerb vorkommen, z. B. bei der Pluralbildung (Stuhls statt Stühle) • entwicklungsbedingte (intralinguale) Fehler, die es auch im Erstspracherwerb gibt, z. B. beim Partizip Perfekt (ich habe getrinkt) Das Besondere an der Interlanguage-Hypothese ist die Annahme, dass die zweitsprachliche Entwicklung dynamisch und progressiv verläuft. Kinder mit Deutsch als Zweitsprache werden folglich als aktiv Lernende betrachtet, die sich im Prozess des Zweitspracherwerbs kontinuierlich weiterentwickeln. Das ist für den Anfangsunterricht bedeutsam, z. B. wenn man den aktuellen Sprachstand in der Zweitsprache erhebt. Hier genügt eine einmalige Erhebung nicht, vielmehr müssen die sprachlichen Fähigkeiten in diagnostischen Schleifen erfasst werden, um eine Lernentwicklung feststellen zu können. Bedingungsgefüge des Zweitspracherwerbs Grundlage aller Erklärungen zum Zweitspracherwerb ist die Annahme eines Bedingungsgefüges, dem der Zweitspracherwerb unterliegt. Dieses besteht aus drei relevanten Größen (siehe dazu Grießhaber 2010, S. 128): 1. den Sprachen, also der Erst- und der Zweitsprache 2. den mentalen Ressourcen im Kopf des Lerners 3. den kommunikativen Bedingungen und Bedürfnissen des Lerners. Die verschiedenen Hypothesen heben jeweils unterschiedliche Zusammenhänge in diesem Bedingungsgefüge hervor, wie beispielsweise die Kontrastivhypothese vor allem den Kontrast zwischen den beiden Sprachen in den Blick nimmt. Festhalten lässt sich, dass einzelne Aspekte in den Hypothesen zutreffen, jedoch keine der Hypothesen für sich allein genommen ausreicht, um den Zweitspracherwerb zu erklären. Vielmehr gibt es weitere Einflussfaktoren, die gerade für das schulische Lernen von Relevanz sind. Dazu gehören die Motivation, Fähigkeiten (wie Intelligenz, Interlanguage Vier Fehlerkategorien Weitere Einflussfaktoren

© Finken-Verlag · www.finken.de 11 Sprachwissen, Lernerfahrungen und -strategien) und die Gelegenheiten bzw. der Zugang zur Zweitsprache (vgl. Grießhaber 2010, Jeuk 2010). Dabei sind die Lerngelegenheiten ein wichtiger Faktor, denn sie entscheiden darüber, ob ein Kind ausreichend Kontakt zur Zweitsprache Deutsch und somit überhaupt genügend Möglichkeiten hat, diese anzuwenden. Je häufiger Kinder Kontakt zur deutschen Sprache haben, desto höher sind auch ihre Kompetenzen in der deutschen Sprache (vgl. Jeuk 2010). Basisqualifikationen Im Rahmen des Zweitspracherwerbs müssen sich Lernerinnen und Lerner sprachliche Kompetenzen rezeptiver und produktiver Art aneignen. Ehlich /Bredel /Reich (2008) gehen dabei von sechs Entwicklungsbereichen aus, die sie als Basisqualifikationen bezeichnen: Phonische Basisqualifikationen (BQ) Diese umfassen „die Wahrnehmung, Unterscheidung und Produktion von Lauten, Silben und Wörtern sowie die Erfassung und zielsprachliche Produktion von übergreifenden intonatorischen Strukturen (z. B. Wort und Äußerungsprosodie).“ (Ehlich /Bredel /Reich, 2008, S. 19). Sie sind grundlegend für die kindliche Sprachentwicklung im Mündlichen. Haben DaZKinder frühzeitig umfassenden Kontakt zur deutschen Sprache, können sie ihre phonischen Fähigkeiten bis zum Ende des dritten Lebensjahres vollständig ausbilden. (vgl. Falk /Bredel/Reich 2008, S. 37). Kommt die Zweitsprache Deutsch erst später hinzu und ist der Sprachkontakt geringer, so muss mit einer langsameren Entwicklung und mit stärkeren Einflüssen aus der Erstsprache gerechnet werden. Es kann zu Interferenzen zwischen beiden Lautsystemen kommen, d. h. Sprachlaute aus der Erstsprache werden in die Zweitsprache eingefügt und Sprachlaute aus dem Deutschen weggelassen. Pragmatische BQ Sie beinhalten die Fähigkeit, sich in kommunikativen Interaktionen sprachlich angemessen zu verhalten, d. h. über passende Sprachhandlungsmuster zu verfügen. Dazu sind Kinder auf vielfältige Sprechhandlungen innerhalb und außerhalb der Familie angewiesen. Die basale Fähigkeit zum kommunikativen Handeln ist also Teil des Erstspracherwerbs. Für die Zweitsprache ist nun vor allem relevant, über welche sprachlichen Mittel (z. B. Wortschatz, Wortbildung, syntaktische Mittel) ein Kind in dieser Sprache verfügt, um sich zu verständigen. Semantische BQ Hierzu zählen der Aufbau eines passiven und aktiven Wortschatzes sowie die Differenzierung des Wortschatzes auf der Ebene der Wortbedeutungen und der Wortbildung. Die Bedeutungsentwicklung ist bei zweitsprachigen Kinder abhängig von der Intensität und Qualität des Sprachkontaktes. Bei lückenhaftem Wortschatz entwickeln Kinder oftmals Kompensationsstrategien. Dazu gehören Wortneuschöpfungen wie Pferdesitz statt Sattel (Neologismen), Wortwiederholungen (Paraphrasierungen) und Überdehnungen, bei denen ein Obergriff (z. B. gehen) für alle Unterformen verwendet wird. (vgl. Komor/Reich 2008, S. 53, Rösch 2003, S. 16 f.)

12 © Finken-Verlag · www.finken.de Morphologisch-syntaktische BQ Die grammatische Entwicklung wird von den basalen Fähigkeiten (z. B. Umsetzung der Sprachprosodie) geprägt. (vgl. Kemp /Bredel /Reich 2008, S. 63). Man geht davon aus, dass Kinder, die erfolgreich einen Erstspracherwerb durchlaufen haben, über grundlegende Sprachstrukturen verfügen und diese zum Teil für den Zweitspracherwerb nutzen können. Dabei gilt:, je mehr Kontakt zur Zweitsprache, umso besser die Beherrschung der formalen Prinzipien. Dennoch lassen sich bei DaZ-Kindern einige Bereiche ausmachen, in denen häufiger eine langsamere Entwicklung zu beobachten ist. Dazu gehören auf der Wortebene: Pluralbildung, Genitiv, Genusmarkierung, Tempus und Präpositionen und auf der Satzebene die Stellung des Verbs im Satz. (vgl. Kemp /Bredel /Reich 2008 S. 70 ff.). Dabei erfolgt eine Entwicklung von einfachen zu immer komplexeren Strukturen (z. B. Verbklammer, Verknüpfungen und Nebensätzen). Diskursive BQ Die diskursive Basisqualifikation umfasst „die Befähigung zum komplexen zweckgerichteten sprachlichen Handeln mit anderen.“ (Ehlich /Bredel / Reich 2008, S. 20) Kinder eignen sie sich bereits frühzeitig im Spiel mit anderen Kindern und Erwachsenen an. Wie die pragmatischen Fähigkeiten sind sie nicht an eine Sprache gebunden, aber in hohem Maße abhängig von Umweltfaktoren, wie z. B. Erzähltraditionen in der Familie (vgl. Guckelnberger /Reich 2008, S. 84). Literale BQ Zu ihnen gehören zunächst die Vorläuferfähigkeiten für das Lesen und Schreiben (Literale BQ I) und im späteren Verlauf das Nutzen orthografischer Strukturen für das Lesen und Schreiben (Literale BQ II) (vgl. Ehlich /Bredel /Reich 2008, S. 20). Wie für den Schriftspracherwerb insgesamt besteht eine Abhängigkeit von den frühen Literacy-Erfahrungen der Kinder. Nicht selten haben DaZ-Kinder, die im mündlichen Bereich als unauffällig gelten, Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben (siehe auch Ehlers 2014).

© Finken-Verlag · www.finken.de 79 7. Unterrichtsvorschläge für einen integrativen Sprachunterricht Wenn Ihre Schülerinnen und Schüler am Morgen die Klasse betreten, dann haben sie ihre ganz eigenen Erfahrungen mit dem Start in den Tag gemacht. Während Katja sich mit Kakao und Brötchen stärken konnte, hat Thomas verschlafen und kommt ohne Frühstück zur Schule. Felix hat sich vielleicht schon beim Zähneputzen mit seinem Bruder gestritten, während Lisa und Betül den gemeinsamen Weg zur Schule nutzen, um sich etwas zu erzählen. Die Stimmungslage kann also sehr unterschiedlich sein. Nur selten nehmen wir uns die Zeit, um mit den Kindern über ihre Gefühle und die Ursachen ihrer Stimmung zu sprechen. Jenseits der schulischen Alltagspraxis hat das Thema „Gefühle“ auch in den Bildungsstandards und Lehr- bzw. Rahmenplänen der Länder einen festen Platz. So stellt das „Sprechen über eigene Gefühle“ im Lehrplan Deutsch für NRW explizit eine Kompetenzerwartung für das Ende der Schuleingangsphase dar. Darauf aufbauend sollen die Kinder in den Schuljahren 3 und 4 zudem die Fähigkeit ausbilden, ihre eigenen Gefühle zu beschreiben und auf die Gefühle anderer zu reagieren (vgl. LP NRW, S. 28). Hier überschneiden sich die Kompetenzerwartungen im Bereich „Sprechen und zuhören“ mit den Lernzielen für den Sachunterricht. In Rheinland-Pfalz z. B. sollen die Kinder im Erfahrungsbereich „Ich und andere“ lernen, „gemeinsame und unterschiedliche Interessen, Wünsche, Bedürfnisse und Gefühle von Menschen [zu] erkennen und respektvoll [zu] erforschen“ (LP RLP S. 11). Um vergleichbare Kompetenzen geht es auch im Bereich „Mensch und Gemeinschaft“. So bietet das Thema „Gefühle“ also gute Möglichkeiten, die Fächer Deutsch und Sachunterricht sinnvoll miteinander zu verbinden, was insbesondere im Anfangsunterricht der Grundschule wünschenswert ist. 7.1 Wie fühlst du dich heute? – Eine Unterrichtsreihe rund um das Thema „Gefühle“ Die nachfolgende Unterrichtsreihe setzt hier an. Die Kinder sollen zunächst unterschiedliche Gefühle wahrnehmen und über deren Ursachen nachdenken. Dabei ist es wichtig, dass sie Bezüge zu konkreten Situationen aus ihrem Alltag herstellen, um die abstrakten Begriffe mit Inhalt zu füllen. In einem zweiten Schritt finden sie passende Formulierungen, um Stimmungen auch sprachlich zum Ausdruck zu bringen. Das zweisprachige Bilderbuch (deutsch/türkisch) „Wie fühlst du dich heute?“ von Lucia Scuderi (Edition bi: libri) gibt Anregungen, weil man dies differenziert tun kann. Auf zwölf übersichtlich gestalteten Doppelseiten verrät uns die Ich-Erzählerin ihren Gemütszustand, indem sie bildhafte Vergleiche zur Tierwelt herstellt, z. B. „Ich bin müde wie eine Eule am Mittag“ oder „Ich bin wütend wie eine Katze, die ein Bad nehmen soll“. Durch die Wiederholung der immer gleichen sprachlichen Struktur ergeben sich zusätzliche Lernchancen für Zweitsprachlerner/innen. Im Buch gibt es außerdem eine CD, auf der die Textpassagen in acht verschiedenen Sprachen vorgelesen werden. Übergreifende Ziele der Reihe: Die Kinder sollen • grundlegende Methoden des Deutsch- und Sachunterrichts kennen lernen, • ihr sprachliches Repertoire weiter ausbauen, • metasprachliche Kompetenzen entwickeln. Fachliche Ziele der Reihe (Deutsch): Die Kinder sollen • unterschiedliche Gefühle erkennen und benennen, • sprachliche Mittel und Strukturen kennen lernen und anwenden, • sich in eine Rolle hineinversetzen und diese gestalten, • ihre eigenen Gefühle zum Ausdruck bringen.

80 © Finken-Verlag · www.finken.de Sprachliche Strukturen, die in der Reihe angebahnt werden können: Aussagesätze: Ich fühle mich …/ Ich bin … (+ Adjektiv) Verbflexion: Er fühlt sich / Sie fühlt sich … (+ Adjektiv) Satzgefüge: Konjunktion „weil“ (+ Inversion) Bildhafter Vergleich: Ich fühle mich wie … Fachliche Ziele der Reihe (Sachunterricht): Die Kinder sollen • eine positive Haltung zu sich selbst entwickeln, • eigene Bedürfnisse und Interessen wahrnehmen lernen, • Stimmungen und Gefühle anderer wahrnehmen. Reihenverlauf: 1. Stunde: Wie fühlen sich die Kinder? Wir versuchen, Stimmungen zu erkennen und szenisch darzustellen. (Sprechen und Zuhören / Schwerpunkt: Szenisch spielen) 2. Stunde: Kennst du das auch? Wir malen und erzählen eigene Erlebnisse. (Sprechen und Zuhören / Schwerpunkt: Zu anderen sprechen) 3. Stunde: Wie fühlst du dich heute? Wir lernen das Bilderbuch kennen. (Lesen – Umgang mit Texten und Medien / Schwerpunkt: Texte erschließen) 4. Stunde: Und wie sage ich es in deiner Sprache? Wir formulieren Stimmungen und Gefühle in fremden Sprachen. (Sprache und Sprachgebrauch untersuchen Schwerpunkt: Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Sprachen entdecken) müde fröhlich

© Finken-Verlag · www.finken.de 81 1. Stunde Wie fühlen sich die Kinder? Wir versuchen die Stimmung der Kinder szenisch darzustellen. Kompetenzbereich Ziel/Kompetenz Material Einstieg Sitzkreis Impuls Orientierung/ Erarbeitung Pantomime Arbeitsphase Reflexion/Präsentation Sprechen und Zuhören Die Kinder versetzen sich in eine Stimmungslage und gestalten sie gestisch und mimisch. M9 Bildkarten „Gefühle“; Blankokarten; Tamburin In der Mitte des Sitzkreises liegen Bilder von Kindergesichtern M9 , die unterschiedliche Gefühle zeigen: traurig, ängstlich, fröhlich, wütend … Kinder äußern sich spontan. Sofern nötig gibt die Lehrkraft den Impuls: Wie fühlen sich die Kinder? Einzelne Kinder ordnen den Bildern mögliche Gefühle zu und begründen, woran sie die Stimmung erkannt haben, z. B. Der Junge ist traurig, weil er … L. fordert die Kinder auf, das Gefühl gestisch und mimisch darzustellen. Begleitend dazu sprechen die anderen Kinder: … ist traurig/fröhlich/wütend … Die Wörter für Gefühle werden auf Karten notiert und zusammen mit den Bildern an die Tafel gehängt. Im Anschluss spielen die Kinder ein Spiel. Dazu gehen alle durch die Klasse oder Turnhalle. L. schlägt mit dem Tamburin einen Takt und ruft ein Gefühl auf, etwa: Du bist traurig. Kinder müssen nun versuchen, das Gefühl treffend darzustellen. Die Übung endet wieder mit dem Schlagen des Tamburins. Nun gehen die Kinder weiter durch die Klasse und warten auf die nächste Ansage. Die Kinder kommen im Theaterkreis zusammen oder setzen sich an ihre Plätze. L: Wie fühlst du dich heute? Einige Kinder kommen nach vorne und stellen das entsprechende Gefühl gestisch und mimisch dar. Die Zuschauenden erraten, um welches Gefühl es sich handelt und begründen ihre Vermutung. Dabei kann die Sammlung von Gefühlswörtern auch erweitert werden.

94 © Finken-Verlag · www.finken.de Material (M) auf der CD · Sprachlicher Anfangsunterrricht Band 4 M1 Symbolkarten: Sozialformen/Arbeitsformen/Reflexion · Tipp!-Topp!-Karten/Smiley/Grumpy M2 Im Supermarkt (Poster) M3 Sprachproduktion und Sprachrezeption · Einzelbeobachtung (deutsch) M4 Beobachtungsbogen (deutsch) M5 Sprachproduktion und Sprachrezeption · Einzelbeobachtung/Beobachtungsbogen (türkisch) M6 Begrüßungs-Verabschiedungs-Formeln in verschiedenen Sprachen M7 Wort/Satz des Tages M8 Stolperstellen der deutschen Sprache M9 Gefühle (farbig/Strichillustration) M10 Schreibtabelle M11 Minimal-Paare M12 Plural-Wörter M13 Präpositionen: Wo ist der Clown?/Wo ist …? M14 Verknüpfung von Inhaltswörtern · Würfelbild/Faltanleitung Würfel M15 Pronomen M16 Textteile ordnen M17 Geschichte zum Spiel „Käsebrot“ M18 Bild-Wortkarten „Obst“ M19 Groß-Kleinbuchstaben-Karten (deutsch) M20 Buchstabenkarten in verschiedenen Sprachen (türkisch/polnisch/russisch) M21 Koffer-Geschichten M22 Gegensatz-Paare (farbig/Strichillustration) M23 Texte zur sinnlichen Wahrnehmung M24 Versteckte Wörter M25 Zettel-Wörter M26 Reimwörter M27 Esel · Hund · Katze · Hahn (farbig/Strichillustration) M28 Die Bremer Stadtmusikanten · Teil 1 M29 Auf dem Weg nach Bremen (farbig/Strichillustration) M30 Die Bremer Stadtmusikanten · Teil 2 M31 Die Bremer Stadtmusikanten · Teil 3a/3b M32 Die Bremer Stadtmusikanten · Teil 4/Teil 5 M33 Schlafplätze der Tiere (farbig) M34 Überfall auf die Räuber (farbig) M35 Schlafplätze/Überfall (Strichillustration) M36 Vollständiges Literaturverzeichnis

© Finken-Verlag · www.finken.de Sprachlicher Anfangsunterricht · Band 4 Gefühle M9 ängstlich müde fröhlich wütend traurig langweilig

© Finken-Verlag · www.finken.de Sprachlicher Anfangsunterricht · Band 4 Gefühle M9 ängstlich fröhlich langweilig wütend traurig müde

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